Interview von Ricco Bilger, Verleger mit Urs Augstburger

R.B. Wer ist Gatto Dileo?
U.A. Die klassische Figur am Scheideweg. Vergleichbar mit dem Singer/Songwriter Calvin Russell, der im Song Crossroads der selben Kreuzung steht. Eine Strasse führt ins Paradies, eine in den Schmerz, eine in die Freiheit ... nur sehen dummerweise alle Strassen gleich aus.

 

R.B. Wir reden über Literatur und bereits dein erstes Zitat bezieht 
sich auf Musik. Wer also ist Gatto Dileo?
U.A. Literatur ist für mich und für viele meiner Generation eng mit Musik gekoppelt. Italienische Canzoni sind dem Buch – und übrigens auch meinem Leben – unterlegt. Wer sich von den Stücken inspirieren oder erinnern lassen will, sei dazu eingeladen, für die anderen tun sie der Spannung der Geschichte keinen Abbruch. Keine Italienisch-Kenntnisse vorausgesetzt! Entscheidend ist vor allem eines der erwähnten Lieder: Vita spericolata von Vasco Rossi. Ein Schlüssellied meiner Generation. Es komprimiert in vier Minuten jenes Gefühl von Sehnsucht, das alle Figuren des Romanes beherrscht. Wer Gatto Dileo sei, wolltest du wissen. Ein Rocksänger. Einer, der dieses waghalsige Leben, la vita spericolata, ausgekostet hat.

 

R.B. Und der dies bereut!
U.A. Weil er für den Erfolg alles verraten hat, was ihm einst heilig war. Das wird ihm spät bewusst. Sehr spät. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere zwingt ihn ein das chronische Erschöpfungssyndrom, auch Burnout genannt, zum Ausstieg. Er zieht sich zurück. Verschiedene Ereignisse zwingen ihn dazu, seine unbewältigte Vergangenheit aufzuarbeiten.

 

R.B. Fügen wir dem Puzzle ein weiteres Steinchen hinzu. Gatto Dileo, der als Junge Salvo hiess, spielte mit seinem Freund Maurizio und der Bassistin Mitra in einer Band. Der Song „Eravamo in Tre“ von Gatto Dileo, spielt auf diesen fatalen Ménage à trois an. Fatal, weil er in einer Katastrophe endet.
U.A. Genau hier liegt mein Hauptinteresse an der Geschichte an: Was geschieht, wenn die erste grosse (Jugend-)Liebe tragisch und deshalb traumatisch endet? Was geschieht, wenn die Beteiligten fast zwanzig Jahre später von der Vergangenheit eingeholt werden?

 

R.B. Das ist einer der Stränge, der auch mich als Leser sofort in den Bann zieht: Die Erinnerung an die erste grosse Liebe. Mehr noch: an das Scheitern dieser ersten Liebe. Ich behaupte mal, dass es wohl niemanden gibt, der oder die sich nicht daran erinnert.
U.A. Was die Frau, die uns gleich den Grappa servieren wird, eben bestätigt hat! Auch sie erinnert sich und sie verbindet die Erinnerung sofort mit dem entsprechenden Song, der damals für sie wichtig war. 

 

R.B. Ist deine Hauptfigur deshalb ein Sänger?
U.A. Vielleicht. Und weil einer wie Gatto Dileo durch seinen Erfolg zwangsläufig unter einer Glasglocke lebt. Isoliert von den realen Problemen, die unseren Alltag dominieren. So hat er die dramatischen Ereignisse aus seiner Jugendzeit auf eine ganz andere Weise verarbeitet oder verdrängt, als etwa die dritte im Bunde, seine erste grosse Liebe ...

 

R.B. ... Mitra Gagliardo, die mit ihrer Tochter Anna in die Toskana reist – und damit zurück in die Vergangenheit.
U.A. Mitra ist zwangsläufig geerdeter als Gatto. Sie musste als alleinerziehende Mutter früh auf eigenen Füssen stehen. Ihr hat nie jemand einen roten Teppich ausgelegt. Trotzdem lässt sie das, was in ihrer Jugend passiert ist, nicht los. Die Liebesgeschichte zwischen den beiden wird so aus zwei sehr verschiedenen Blickwinkeln erzählt. Eine Geschichte, zwei Erinnerungen, die sich zu einem stimmigen Bild ergänzen ... sollte man meinen! Aber von jeder Geschichte gibt es bekanntlich drei Versionen – seine, ihre und die kalte, nackte Wahrheit. Womit ich dir schon das zweite Musiker-Zitat untergejubelt habe! Von Don Henley in Long way home, einem begnadeten Texter ...

 

R.B. Ich seh es dir nach. Zumal ja auch der Roman eine „dritte Dimension“ erhält: Eingeführt durch jenen Unbekannten, der Gatto Dileo in anonymen Mails vorwirft, er sei schuld am Tod seiner Frau und am Tod seiner Tochter. 
U.A. Er verunsichert Gatto Dileo zusätzlich. Seine schriftlichen Schilderungen, wie er seiner vierjährigen Tochter helfen wollte, den Verlust der Mutter zu verarbeiten, berühren Gatto. Sie erinnern ihn im Zusammenspiel mit anderen Ereignissen daran, wie weit er sich von all jenen Dingen entfernt hat, die eigentlich das Leben ausmachen. Das Leben ist das, was passiert, während man mit anderen Dingen beschäftigt ist, sagte mal ein grosser Musiker ...

 

R.B. John Lennon.
U.A. Genau. Das war das letzte Zitat, ich versprechs! Aber es trifft ziemlich genau auf Gatto Dileo zu. Und letztendlich erinnern ihn die Mails auch an seine künstlerische Verantwortung, die er nie wahrgenommen hat. Der er sich nicht mal bewusst war!

 

R.B. Die erwähnten Mails sind schon fast eine Anleitung zur Trauerarbeit.
U.A. Eine Folge persönlicher Erfahrungen in den letzten Jahren. Wie erklärst du einer Vierjährigen das Sterben ihr nahestehender Menschen? Wie beantwortest du Fragen, auf die du selbst keine Antwort weisst? Auf die es keine Antwort gibt? Ich erfand Rituale. Geschichten. Mehr fiel mir nicht ein. Einfache Geschichten, ähnlich jenen, die der Unbekannte seiner Tochter erzählt. Und tatsächlich, sie helfen auch Gatto Dilo zu trauern. Um Maurizio, seinen Jugendfreund, den dritten in der Band. Siebzehn Jahre nach dessen Tod findet er in Rituale, die seine Trauer erst ermöglichen.

 

R.B. Zurück zur Liebesballade. Da folgst du ganz dem klassischen Muster: eine schon fast arkadische Situation wird aufgebrochen. Das Schicksal reisst Menschen auseinander, die ihren eigenen, nicht eigentlich selbst gewählten Weg gehen müssen. Irgendwann, viel später, nach einer Zeit des Wartens, Ausharrens, Überlebens, machen sie sich auf, gehen einen Weg der Erinnerung, folgen dem Klang der ersten Liebe.
U.A. Und an den Rändern wird die Erinnerung unscharf. Nein, kein Musiker-Zitat! Gatto Dileos Worte im Roman. Nehmen wir Cortona, den einzigen auch real existierenden der beschriebenen Orte im Buch. Cortona (www.cortona.net) war einst das Ziel meiner eigenen Maturareise. Wir fuhren im Nachtzug von Wettingen über Firenze nach Terontola und weiter mit dem Bus nach Cortona. Im Ohr die Musik von Vasco Rossi, Lucio Dalla, Francesco DeGregori, Bennato, de André und wie sie alle hiessen ... Die Hormone und vieles andere spielten verrückt. Für Mitra und Gatto ist dieses Cortona mehr das Symbol der verlorenen Sehnsucht als eine Erinnerung. Für mich persönlich nicht, bei mir ging die Geschichte anders aus.

 

R.B. Deinen Büchern merkt man an, dass sie sich auf gelebte Vorlagen beziehen. Die Musik und die Liebe, zwei Lieblingsthemen von Urs Augstburger...
U.A. ... zwei unausweichliche Themen, für alle von uns. Zumindest einem gewissen Alter. Über die Szene, in der ich mich damals herumtrieb, liesse sich sagen: Zwei waren ein Paar, drei eine Band.

 

R.B. Wir treffen Gatto gleich zu Beginn des Romans versteckt in einem 
verlassenen Dorf im Quartatal, einem fiktiven Bergtal im Süden der Schweiz 
an. Wieso gerade das Tessin?
U.A. Mit dem letzten Buch „Schattwand“ ...

 

R.B. ... das mittlerweile ein richtiges „Volksbuch“ geworden ist und bald in die dritte Auflage geht ...

U.A. „Volksbuch“ tönt ein bisschen zu sehr nach „Volkspartei“. Was ich sagen wollte: Bei „Schattwand“ habe ich eine Schwäche für imposante Kulissen entwickelt. Und „Gatto Dileo“ ist auf verschiedenen Ebenen eine Synthese von „Für immer ist morgen“ und „Schattwand“. Für mich persönlich der Abschluss einer Trilogie zu den Themen Liebe und Tod. Und wie in allen meinen Büchern tauchen Figuren, Begebenheiten aus den vorherigen wieder auf. Mir war deshalb bald klar, dass ich auch diesmal eine urtümliche Landschaft und die Unberechenbarkeiten der Natur als Kontrast zur Liebesballade wollte. In den Tessiner Seitentälern erfüllt sich ja unsere nördliche Sehnsucht nach Italianità, nach Leichtigkeit, trotzdem müssen wir dort nicht auf das Schroffe, Rauhe, Archaische verzichten. Das Zwiespältige, die Zerrissenheit spiegelt sich einerseits in der Landschaft, andererseits in den drei Hauptfiguren, die ja italienische Secondos sind. 

 

R.B. Entsprechend hart war Gatto Dileos Zeit in jenem Klassenlager für sozial Mindergestellte in den Toggenburger Bergen - wo auch sein Künstlername entstanden ist.
U.A. Keiner hatte sich dort für Salvo den „Tschingg“ interessiert. Mit Ausnahme der Katze vom Nachbarshof. Zwei Wochen hat er nur mit ihr verbracht. Sie krallt sich auch auf seiner Schulter fest, als er das Final im Tischfussballturnier gewinnt. Und mit ihm Holland. Nicht Italien steht auf seinem selbstgemalten T-Shirt. Die Abgrenzung von seiner Ausgrenzung als „Tschingg“. Sie nannten ihn Gatto, nach der Katze, und Gatto ist ihm geblieben, wurde sein Markenzeichen.

 

R.B. Wäre einer wie er heute akzeptierter als damals, zu Beginn der 80er-Jahre?
U.A. Glaub ich nicht. Die Schweizer lernen in solchen Dingen langsam, einige gar nie. Am Freitag reden sie einer Verschärfung des Asylrechts das Wort, am Samstag bejubeln sie die Gebrüder Yakin, weil sie die Nati an die EM geführt haben. Ob im Fussball, in der Musik, in der Kunst – Secondos sind die kreativeren Schweizer. Und darauf trinken wir jetzt unseren Grappa!

 

R.B. Du hast einen Amarosa Torcolato aus Venetien bestellt. Weshalb gerade dieser?
U.A. Weil er gut ist. Hat die Serviererin eigentlich erwähnt, von wem der Song zu ihrer ersten Liebe war?


R.B. Von Connie Francis.
U.A. Lass mich einen Moment überlegen, das war dann wahrscheinlich ...


R.B. Salute! Und danke für das Gespräch.

Anfragen für weitere Lesungen ab sofort wieder hier.

 

Die Einzellesungen oder Duolesungen mit Texten, Filmen, Sounds und Polaroids, eignen sich für Bibliotheken, Buchhandlungen, Buchclubs oder Kleintheater. Die komplette Technik wird mitgebracht.

 

Die Einzellesungen und die Liveshows mit der Band starten im Herbst 2021 wieder.

 

Ein Ausschnitt aus der Kritik zur Bibliothekslesung Eschlikon (Thurgauer Zeitung vom 18.3.13):

Urs Augstburger und Monika Schärer lesen feinfühlig, präzise und in geschliffenem Bühnendeutsch. Sie verkörpern ihre Rollen, ummantelt von sanften Klängen. Liebevoll fügen sich ihre Worte in die wunderschöne, wenn auch tragische Geschichte ein und bescheren dem Publikum prickelnde Neugier, Trauer und auch mal einen herzhaften Lacher.